Rüdiger Lainer
Über die Wirklichkeit der Architektur
Rüdiger Lainer studierte zwischen 1968 und 1971 Physik, Soziologie und Malerei in Wien und Paris, von 1970 bis 1978 Architektur an der Technischen Universität Wien. Er ist seit 1985 freischaffender Architekt in Wien. Seit 2005 betreibt er mit Oliver Sterl die Büropartnerschaft Rüdiger Lainer + Partner Architekten. Von 1995 bis 2006 lehrte er als Professor und Leiter der Meisterschule für Architektur an der Akademie der bildenden Künste Wien.
Mit seinem Büro hat Rüdiger Lainer Projekte unterschiedlicher Größenordnung und Thematik entworfen und realisiert: Wohnbauten, Schulen, Kinos, Bürogebäude, Ausstellungen und städtebauliche Planungen wie das Flugfeld Aspern (1995) oder das Strukturkonzept ‚Nördliches Umfeld Gasometer‘ in Wien-Simmering (1999).
Peter Reischer besuchte ihn in seinem Atelier und unterhielt sich mit ihm über Wirklichkeiten und das Bild der Architektur in der Gesellschaft.
Herr Architekt Lainer, wieso haben Sie zuerst Physik, Malerei und Soziologie studiert und dann Architektur? Das ist ein eher ungewöhnlicher Weg?
Für mich war es ein fast logischer Weg, weil es genau diese Synthese der Gegensätze ist. Nach dem Studium der Malerei habe ich gemerkt, dass die rein subjektive Entäußerung mir nicht liegt.
Was meinen Sie mit Gegensätzen?
Auf der einen Seite das Kreative, Emotionale, auch das Irrationale und dann die Physik, die auf sehr linkische Art und Weise versucht, an die Grundlagen der Dinge heranzugehen.
Beziehen Sie das heute auch noch in Ihr Denken mit ein?
Schon, ja. Das Logische, das Zusammenhängende ist ja in der Architektur auch gegeben.
Welches ist Ihr Selbstverständnis als Architekt? Wie beschreiben Sie Ihre Architektur?
Ich würde mich in keine der ‚Richtungen oder Strömungen‘ einordnen. Was mich interessiert ist die Überlagerung von Kreativität und Poesie und auch das Pragmatische, das fasziniert mich. Wie kann ich die Wirklichkeit in diesem Sinn interpretieren und verstehen - ich verschiebe den üblichen Blick auf die Wirklichkeit ein kleines Stück und gewinne damit eine andere Sicht.
Wie definieren Sie die ‚Wirklichkeit‘? Ihre Wirklichkeit?
Nein, das ist sozusagen gesellschaftliche Wirklichkeit, Ästhetisches, technische Parameter, die verschiedenen Gestaltungskanons ... alles, das die Walze dieser gesellschaftlichen Entwicklung bedingt, manches politisch, manches technisch.
Sie haben keine subjektive Wirklichkeit?
Ich habe, wie jeder, eine subjektive Wirklichkeit, aber ich messe sie daran, was ich als gesellschaftliche Wirklichkeit verstehen will.
Ich konfrontiere Sie mit einem Statement Ihrer Homepage:
Architektur ist nicht als abgeschlossene Disziplin zu verorten, vielmehr im Spannungsfeld von alltäglichen Lebensvorgängen und besonderen Ereignissen, von Analyse, Forschung und Gestaltung, von Bauplatz und Stadt. Ausgangspunkte eines Entwurfs sind Anforderungen und Selbstverständnis der Auftraggeber sowie eine kritische Hinterfragung etablierter Typologien. ......
Warum diese typische Sprachlichkeit? Hebt sich der Architekt damit von den ‚normalen’ Menschen ab?
Es ist die Schwierigkeit, der Versuch, sehr komplexe Vorgänge, oder die Suche nach diesen komplexen Vorgängen in einfache Worte zu bringen. Vor 10 Jahren waren meine Formulierungen noch viel unverständlicher. Das Ziel wäre sicher, das, was da pathetisch in vielen Sätzen gesagt wird - ganz einfach zu formulieren.
Es ist schön, wenn ein Architekt so viel Selbstkritik aufbringt. Meine Kritik an der ‚Architektensprache‘ ist ja, dass sie unverständlich ist.
Sie wird selbstreferenziell! Wenn man nicht mehr weiter weiß, dann macht man noch zwei sprachliche ‚Wolken‘ dazu.
Kommen wir nun zum gesellschaftlichen Bild des Architekten. Der Architekt ist ja nicht derjenige, der Sofas an der richtigen Stelle in der Wohnung/im Grundriss platziert. Das Bild des Architekten ist heute nicht mehr präzise. Das beruht auch auf einer Desinformation über Architektur. Warum wird in den Schulen nicht über Architektur gesprochen?
Die Forderung, Architektur in die Schule zu bringen - die gibt es. Aber sie ist in den Lehrplänen einfach nicht vorhanden, es ist kein Thema. Das ist ein Fehler.
Können Sie rückblickend auf Ihre Lehrtätigkeit eine kritische Distanz einnehmen und ein Résumé über das Ausbildungssystem ziehen? Was soll aus diesem System herauskommen? Architekten?
Mich hat immer der Begriff des ‚mind expanding‘ fasziniert und interessiert. Wahrnehmungs- und Interpretationsmechanismen aufzuweiten, anders denken zu lernen.
Wie bringen Sie das den jungen Studenten bei, was ist da Ihre wichtigste Aufgabe?
Zu zeigen, wie viele Möglichkeiten es gibt.
Damit die Studenten diese Möglichkeiten sehen, bedarf es eines Denkvermögens. Wie wollen Sie ihnen das beibringen?
Das wird über verschiedene Projektentwürfe simuliert. Wenn die Studierenden sehen, dass etwas entsteht, das sie vorher nicht imaginiert hatten, das außerhalb ihrer Vorstellungsmöglichkeit lag, dann ist das ein wichtiger Schritt. Es geht nicht um das Formale, es geht um das Soziale, das Technische ...
Ist das ehemalige Meisterklassensystem oder das neue Bachelor-Master-Studium besser?
Ich glaube schon, dass das Meisterklassensystem besser war. Die persönliche Beziehung zu einem Lehrer hilft bei der Entwicklung. Allerdings sollte es offen sein in dem Sinn, dass man von Klasse zu Klasse und auch zwischen den Schulen wechseln kann. Die Mauer zwischen Rainer und Peichl war zum Beispiel an der ‚Bildenden‘ höher als die Kapruner Staumauer.
Das Meisterklassensystem, das lauter kleine Klone des Professors produziert?
Das hängt nur von den Lehrern ab.
Sollte ein Lehrender an einer Hochschule neben seinem Job als Professor noch ein Architekturbüro betreuen? Da fehlt ihm doch die Zeit für die Studenten?
Ich denke, dass ein anspruchsvoller Praxisbezug sehr wichtig ist. In Amerika ist das anders, dort hat man entweder ein Architekturbüro oder man unterrichtet. Ich kenne dort wenige Professoren, die auch noch bauen.
Gibt es in dieser Angelegenheit nicht einigen Handlungs- und Veränderungsbedarf in unserer Gesellschaft? Aber darüber wird nicht gesprochen!
Da geht es um dieses absurde Verhalten, sich an Marken zu orientieren. So wie die Menschen eben ‚Prada‘ tragen, hat man eben bei Zaha Hadid studiert. Dass die Studenten während der ganzen Zeit die Hadid zwei mal gesehen haben, ist egal. Das ist der hier herrschende Konsumismus, man ist durch die Nähe zu einem Menschen oder einer Marke, die etwas bedeutet, geadelt. Dieser Konsumismus ist ein gesellschaftliches Phänomen!
Was ist für Sie Architektur?
Für mich ist es diese Mischung, dieses Spiel aus Poesie, Kreativität und der Auseinandersetzung mit einer ganz pragmatischen Wirklichkeit - technisch, ökonomisch, politisch.
Und was ist Architektur im Bezug zur Gesellschaft?
Für mich ist sie einer der wesentlichen Träger für ein mögliches Wohlbefinden. Sie ist eine soziale Instanz, wenn ich versuche einen Stadtraum, in dem ich mich gerne bewege und in dem ich versuche Typologien zu schaffen, zu realisieren. Hier hat die Architektur eine ganz wesentliche, sozial bestimmende Kraft. Das ist unabhängig von Baukultur.
Welches Urteil stellen Sie jetzt der Gesellschaft aus, und welchen Rückschluss machen Sie auf die Architektur?
Der Gesellschaft ist es relativ egal, was die Architektur macht. Dafür gibt einen Grund: Weil sie nicht verstanden wird, da kommen wir zu der fehlenden, schulischen Information. Was ist Architektur - Hollein hat gesagt: „Alles ist Architektur.“ Architektur bestimmt unser Leben in allen Bereichen.
Wenn Architektur ein Spiegel der Gesellschaft ist - welche Gesellschaft haben wir dann heute?
Eine heterogene Gesellschaft, die schon wieder sehr dispers wird. Sie löst sich auf. Alle Formen, alle Räume sind möglich. Man könnte ein Bedauern über das fehlende kollektive Selbstverständnis - wie es im Historismus vorhanden war - aussprechen. Die andere positive Seite ist, dass die, für dieses kollektive Selbstverständnis notwendigen hierarchischen Strukturen, auch weggefallen sind.
Bedarf es einer Änderung in unserer Gesellschaft?
Es braucht eine kontinuierliche Veränderung. Es muss ein Bewusstsein erzeugt werden, dass Entscheidungen in der Architektur unser tägliches Leben bestimmen. Deshalb nimmt man sie nicht mehr wahr und daraus resultiert ihr geringer, gesellschaftlicher Stellenwert.
In Frankreich ist das Problem den Verantwortlichen bewusst. Dort wird sowohl von ‚oben nach unten‘ wie auch ‚von unten nach oben‘ agiert.
Ja, die Franzosen sind uns da voraus, Architektur ist dort ein Exportartikel, die Ministerien haben das sehr wohl wahrgenommen. Sie unterstützen die Architekten auch dementsprechend bei Auslandstätigkeiten.
Wenn ich nun Ihre Architektur betrachte, dann sehe ich einen Prozess der Auflösung der Außenhaut. Sei es durch räumliche Durchdringungen und Durchbrechungen, oder mittels Ornament und Muster?
Es ist weniger eine Auflösung, sondern eine Tiefenwirkung, es gibt gewisse Schichten. Die können 30 cm oder auch 4 Meter tief sein.
Wobei das für mich Wesentliche in der Architektur ist, dass sie eine gesellschaftliche Kraft ist, die in unterschiedlichen Maßstäben unser Leben beeinflusst. Sei es durch städtebauliche Strukturen, sowohl die Volumen wie auch die Räume dazwischen, sei es durch das soziale Potential vielfältiger Typologien, aber auch durch die Möglichkeit der sinnlichen Wahrnehmung von Material, Licht sowie allem, das Stimmungen erlebbar macht.
Verfolgen Sie in Ihren Arbeiten eher den Wechsel von unterschiedlichen Themen oder die Konstanz eines Konzeptes?
Es gibt immer verschiedene, erkenntnisleitende Interessen bei einem Projekt. Bei manchen geht es um die Strukturen der Oberflächen, manche sind strikt typologisch. Ich will nicht ein Thema, wie die ‚technische Moderne‘ oder die ‚dekonstruktive Vielfalt‘ weiterentwickeln, sondern das, was mich interessiert, ist einfach die Vielfalt und auch die Gegensätzlichkeit als Teil des Entwurfsprozesses zu akzeptieren und zu verwenden.
Sie verfolgen also verschiedene Zugänge, aber auch den Wechsel, die Veränderung im architektonischen Prozess? Aber Sie ziehen auch ein Konzept durch.
Ja, aber ich behalte die Tiefe der Oberfläche immer im Auge, es sollte nie flach werden.